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Kindeswille

Vortrag

25 Jahre „Anwalt des Kindes“

Vortrag zur Festveranstaltung Bestandsaufnahme.
Brauchen wir ihn immer noch, oder neu, oder schon wieder?
Montag, den 15.04.2013
von 15:00 bis 19:00
Plenarsaal des OLG Hamburg
Sievekingplatz 1, 20355 Hamburg

Festvortrag mit dem Thema: Kindeswille - gut dass wir darüber gesprochen haben ...

Zum Kindeswillen ist schon mehr und Klügeres gesagt worden, als ich es könnte, darum will ich Sie und meine Position als „Festrednerin“ heute nutzen, um meine Fragen und meine Skepsis zum Thema Kindeswille vor Ihnen auszubreiten. Sie werden mir mit Sicherheit in einigen Punkten widersprechen, wir werden diskutieren, sodass es zu guter Letzt heißen kann: Gut, dass wir darüber gesprochen haben.

Ich zähle auf Sie, weil Sie nach allem, was ich bisher hörte, in der Materie zu Hause sind. Meine Perspektiven, aus denen ich bisher auf das Thema schaute und schaue:

  • als Jugendamtsmitarbeiterin.
  • Als Kinderschutzfrau und Menschenrechtsvertreterin war ich vom ersten Moment an dabei.
  • Als Coach zum Thema „Sprechen mit Kindern“.
  • Als unabhängige psychologische Sachverständige für Familiengerichte.

Aus all diesen Sichten kann ich die Zwangslage folgendermaßen skizzieren:

  • Sprechen wir nicht mit dem Kind, enthalten wir ihm Rechte vor.
  • Sprechen wir mit dem Kind, müssen wir seine impliziten Äußerungen im Hinblick auf seinen Willen interpretieren.
  • Fragen wir das Kind konkret nach seinem Willen, müssen wir seine Antworten bewerten und eigene Schlussfolgerungen daraus ziehen.
  • Hat das Kind seinen Willen geäußert und setzen wird diesen 1:1 um, gefährden wir u.U. dadurch das Kind.
  • Sagt uns das Kind, was es will, und setzen wir diesen konkret geäußerten Willen nicht um, wird das Kind sich betrogen fühlen und u.a. kein Vertrauen mehr zu den Erwachsenen haben.
Ich fasse es mit Oscar Wilde zusammen:

"Auf dieser Welt gibt es nur zwei Tragödien.
Wenn Wünsche enttäuscht und wenn sie erfüllt werden.
Das zweite ist viel schlimmer."

Zu beiden Tragödien habe ich Ihnen je ein Beispiel mitgebracht. Beide haben sich so zugetragen. Auf dem Hintergrund dieser beiden Fälle möchte ich feststellen, dass ich die Bewertung von Oscar Wilde „Das zweite ist viel schlimmer“ nicht unbedingt teile. (Ich erlaube mir, an dieser Stelle den Kindeswillen mit -wunsch zu übersetzen, da Wunsch und Wille verwandt sind und das Kind in aller Regel begrifflich eher Wünsche formuliert.

Die Fälle

  • 01
    Der erste Fall
    Jakob
  • 02
    Der zweite Fall
    Silke

Der erste Fall

Jakob

Jakob war 7 Jahre alt, als es zwischen den Eltern - beide tätig in sozialpädagogisch/psychologischen Berufen - gewalttätigen Streit gab. Die Polizei musste einschreiten, der Vater erhielt einen Platzverweis. Daraufhin ließ dieser sich wegen seines Alkoholproblems stationär behandeln. Jakob wurde vom Gericht angehört und erklärte, er wolle nicht zum Vater, weil dieser trinke. Ein Jahr später, der Vater war zu der Zeit trocken, erfolgte eine zweite Anhörung.


Jetzt sagte Jakob dem Gericht, er wolle bei seinem Vater leben, sonst sei der Vater traurig: „Ich und mein Vater wollen das so!“ Zu diesem Zeitpunkt kommt die Verfahrensbeiständin Frau Weiß ins Spiel. Sie spricht zuerst mit den Eltern, die sie als extrem unterschiedlich wahrnimmt: Er sehr emotional, verzweifelt, kann nicht verstehen, warum er den Sohn nicht haben kann, wo er doch nun „trocken“ ist. Sie sehr kühl, kalt wie ein Fisch. Sie schildert grässliche Geschehnisse mit ihrem Mann ohne jede Gefühlsregung, weder in Mimik noch Sprache. Frau Weiß denkt spontan, Jakob soll zum Vater, wegen dessen Emotionalität. Der Vater hat - laut Frau Weiß - aber auch noch etwas Beängstigendes an sich, was sich nicht mit Alkohol erklären lässt. Die Mutter ist in ihrer Eiseskälte aber auch unheimlich. Frau Weiß hört Jakob an. Der sagt: „Ich will zum Papa!“

Jakob verlangt, dass Frau Weiß der Richterin nur ausrichtet, es sei noch so, wie er es ihr beim letzten Termin gesagt hatte. Was Frau Weiß nicht weitersagen darf, sind die folgenden Gründe:

  • Die Mama macht gar nichts mit mir, außer manchmal Vorlesen.
  • Er kann gut kochen, er hat schöne Schränke.
  • Das Poster ist schön, das Sofa ist schön, die Regale und Fächer sind schön.
  • Der Papa sagt, er möchte gerne, dass ich bei ihm wohne, die Mutter sagt nichts, die sitzt immer nur am Schreibtisch.
  • Der Papa soll nicht alleine sein, seine Freunde haben ihn alle verlassen.
  • Die Mutter hat Freunde und mich, aber sie unternimmt nichts mit mir.
  • Der Papa ist viel lockerer, die Mama ist eher streng.

Der Besuch von Frau Weiß beim Vater hat übrigens ergeben, dass er in einer „Pipi-Langstrumpf-Männer-WG“ lebt, wo nachvollziehbar ist, dass ein Kind sich wohlfühlt. Es wird gemeinsam gekocht, Unfug gemacht. Das Leben dort ist nur auf das Kind abgestellt. Frau Weiß denkt: Auf diese Weise ist es leicht, die kühle Mutter abzulehnen.

Im Bericht von Frau Weiß steht dann: Das Kind hat mir verschiedene Dinge anvertraut, möchte aber nicht, dass ich diese weitergebe. Ich plädiere für ein Gutachten, weil Jakob mit der Situation zu stark belastet ist. Die Fragestellung an das Gutachten: Wo soll Jakobs Lebensmittelpunkt sein, wie soll Umgang stattfinden, braucht Jakob Therapie?

Der Sachverständige, Herr Kahl, beschäftigt sich in seinem Gutachten mit der unbewussten Bedeutung des Wunsches von Jakob, zu seinem Vater zu wollen. Seine kategorische Empfehlung: „Aus unbewusster pathologischer Psychodynamik heraus soll Jakob bei seiner Mutter bleiben und in einer intensiven Therapie klären, wie er seine Konflikte integrieren und lösen kann. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre ein Wegziehen zum Vater eine Bestärkung seiner innerpsychischen pathologischen Verarbeitung.“

Jakob bleibt bei der Mutter - und fragt sich: Warum habe ich mich anstrengt und tapfer mitgemacht?“ Er sagt Frau Weiß: „Ich will weiterhin zu meinem Vater, die Gründe, die ich genannt habe, sind OK, und ich bleibe dabei. Mein Vater sagt mir, dass ich zu ihm kommen soll. Meine Mutter sagt mir sowas nie.“

Über das Gutachten von Herrn Kahl entbrennt bei Gericht eine wahre Schlammschlacht. Längst haben alle Jakob aus den Augen verloren. Er bleibt einfach weiter bei der Mutter, die einerseits froh ist, obsiegt zu haben, aber auch verzweifelt ist, weil sie weiß, dass Jakob nicht bei ihr sein will, und sie ihn nicht trösten kann.

Der zweite Fall

Silke

Die 6 jährige Silke ist eines der ersten Kinder, das vor ca 23. Jahren einen Anwalt des Kindes kennenlernte. Silke, heute fast 30 Jahre alt, erinnert sich: Ihre Mutter hatte mit ihr zusammen an einem Herbsttag den Abfall zu den Mülltonnen gebracht und ihr eindringlich das Versprechen abgenommen, dass sie auf ihren kleinen Bruder aufpasst. Danach war die Mutter verschwunden.


Das nächste Bild, an das Silke sich erinnert: Ein sonniger Raum mit einem riesigen Schreibtisch, hinter dem ein Mann - dessen Namen sie nicht mehr weiß - sitzt. Silke „thront“ ihm auf einem Armsessel mit hoher Rückenlehne gegenüber.

Vor ihr auf dem Tisch liegt eine spitze Tüte mit Bonbons. Der freundlich zugewandte Mann sagt, Silke solle sich bedienen. Nach ihrer Erinnerung sagt sie „Nein danke“, obwohl sie Bonbons über die Maßen liebt. Der Mann fragt Silke, bei wem sie leben möchte. Silke antwortet „bei meinem Vater“. An weitere Fragen erinnert sich Silke nicht, auch nicht, ob noch andere Dinge gesprochen worden sind.

Mit 21 Jahren beginnt Silke eine psychoanalytische Therapie. Dort erinnert sie sich erstmals wieder an diese Lebensepisode. Der Therapeut hat dazu gesagt, das sei nicht ihre Entscheidung gewesen, was sie empört zurückweist, denn es war ja tatsächlich so gekommen, wie sie es dem Mann - der ein Anwalt des Kindes war - gesagt hatte: Sie hatte ihre gesamte Kindheit und Jugend mit dem Vater und der Stiefmutter verbracht.

Silke besteht noch in der Therapie darauf, dass der Mann verwirklicht hatte, was sie entschieden hatte. Der Therapeut insistiert, Kinder könnten so etwas nicht entscheiden. Silke protestiert vehement und beteuert, dass es die „richtige Entscheidung“ gewesen sei. Sie weiß wieder, dass sie als Kind wahnsinnig stolz war, dass die Erwachsenen ihrer Entscheidung gefolgt waren. Und sie hat wieder vor Augen, dass der Mann mit ihr gesprochen hat, wie mit einer Erwachsenen - auf Augenhöhe. Dieser Mann hat ihr, dem kleinen Mädchen, das Gefühl der Ebenbürtigkeit gegeben. In ihrer Vorstellung war sie genauso groß wie der Mann.

Dieses Gefühl von Stolz und Macht ist in ihrer Kindheit gelegentlich brüchig, weil Silke brennend nachteilig erlebt, dass sie keinen Kontakt mehr zur Mutter haben durfte. Auch kann sie niemals gegen die Gewalt durch die Stiefmutter aufbegehren, da alles, was ihr geschieht, in ihrem Erleben ihre eigene Entscheidung und Schuld ist. Die Entscheidung zu verantworten bedeutete, die Folgen klaglos hinzunehmen. Zu den Folgen gehört auch, dass der Vater sie vor den Misshandlungen durch die Stiefmutter nicht schützte.

Das Gefühl von Mächtigsein ist mit 6 Jahren dominant und tut - oberflächlich betrachtet - so gut, dass diese Entscheidung auf jeden Fall verteidigt werden muss. Darum ist es für Silke in Ordnung, fast gerecht, verprügelt und nicht geschützt zu werden. Darauf zu beharren „ich habe es entschieden, mit allen Konsequenzen.“ Dies scheint einfacher, als die Entscheidung in Frage zu stellen. Wünsche werden von Silke regelmäßig unterdrückt, aber wann immer es an der Wohnungstüre dieser „Familie“ klingelt in den nächsten 16 Jahren, ist Silke sicher, „jetzt kommt meine Mutter und sie holt mich“. Diese Alternative und damit die sehnsüchtig erhoffte Rettung wird permanent getagträumt.

Auch einen Loyalitäts-Konflikt erlaubt sich Silke nicht: Sie hat sich für den Vater entschieden, mit ihm ist sie loyal. Die Mutter, und die Sehnsucht nach ihr, ist emotional gebunden an das Türklingeln. So ist ihre kompensierte Struktur: Die äußere, materielle Verbundenheit gilt dem Vater, die innere, gefühlsmäßige Verbundenheit hat sie mit der Mutter.

Silke ist ohne Alternative, hoffnungslos, sprachlos - sie ist in einer Sackgasse ihrer eigenen Entwicklung. Dies hat auch zur Folge, dass die gesamte schulische Laufbahn anders verläuft, als es auf Basis der vorhandenen Begabung zu erwarten und möglich gewesen wäre. Silke hat keine Freiheit sich Dinge vorzustellen. Sie muss das Phantasieren aufgeben, das Träumen und das Denken. Auch heute noch erlebt sie täglich das Gefühl von Schuld. Es ist für die unterdessen erwachsene Frau unendlich schwierig, „kreuz und quer“ zu denken, sich zu fragen, „was wäre wenn“, oder „wir tun so als ob“ zu spielen. Das macht immer noch Angst.

Rückblickend stellt Silke fest:

  • Hätte man mich nicht gefragt, würde es mir heute besser gehen.
  • Meine kindlichen Wünsche mich groß zu fühlen, dem Vater zu imponieren, mit ihm auf Augenhöhe zu sein und ihm die Frau zu ersetzen, wurden missbraucht.
  • Aus heutiger Sicht sieht es so aus, als hätten mich die Erwachsenen bewusst oder unbewusst zum eigenen Schutz in diese Verantwortung hineinmanövriert, weil sie sie selbst nicht tragen wollten. Sie können sich exkulpiert fühlen. Mir jedoch hat man lebenslänglich das Gefühl, ja die Gewissheit aufgebürdet, ich hätte die Entscheidung über das eigene Leben selbst getroffen.

Festvortrag (Teil 2)

Ich möchte nun mit Ihnen vor allem über zwei Aspekte nachdenken:

1. Was hatten Jakob und Silke davon, dass sie den Erwachsenen ihren Willen offenbart haben?

2. Was lernen oder erfahren wir aus diesen beiden Fallgeschichten?

Jakob
  • Jakob sagt seinen Willen konkret, wiederholt ihn, begründet ihn und erlebt, dass dies alles nichts nützt. Im Besonderen fühlt er sich betrogen und allein gelassen, weil niemand ihm erklärt hat, wie mit seiner Willensäußerung durch die Erwachsenen umgegangen wird, d.h., warum seinem Wunsch nicht entsprochen wird.
  • Die Verfahrensbeiständin hält sich auffällig zurück und überlässt dem Sachverständigen das Feld. Spielt es hier eine Rolle, dass für die Verfahrensbeistandschaft keine rein subjektive Interessenvertretung legitimiert wurde? Ist es noch immer nicht für alle klar, dass die Ergründung des „objektiven“ Kindeswohls Aufgabe des Gerichtes ist?
  • Wie kommen Verfahrensbeistände zu dem Glauben, ein Sachverständiger wäre geeigneter die Interessen des Kindes zu vertreten?
  • Ist das, was Jakob will, ein „selbstgefährdender Kindeswille“? Diese Konstellation ist dann gegeben, wenn das Befolgen des Kindeswillens Lebensverhältnisse herstellen würde, die im Missverhältnis zur Bedürfnislage des Kindes stehen. Wenn das Konzept des Kindeswillens den Gedanken der Autonomie ernst nimmt, sollte in Sorgerechts-Fällen wie dem vorliegenden dem Kindeswillen entsprochen werden.
Silke
  • Silke sagt deutlich ihren Willen. Dieser wird - ebenfalls unkommentiert - umgesetzt mit dem Erfolg, dass Silke Zeit ihres Lebens auf leidvolle Weise mit den aus ihrer Entscheidung resultierenden Schuldgefühlen zu tun hat.
  • In diesem Fall liegt das Problem darin, dass dem 6jährigen Mädchen bei weitem zu viel Macht übertragen wurde. Dies führte zu einer vollständigen Überforderung des Kindes, das sich nicht dagegen wehren konnte.
  • Ein Ausweg wäre gewesen, dass zwar dem Willen des Kindes hätte entsprochen werden können, dass aber hätte vermittelt werden müssen, dass dies die Erwachsenen beschlossen haben. Die Gründe hätten dem Kind ebenfalls vermittelt werden müssen, sodass es sich von dem belastenden Gefühl der Verantwortung und Schuld hätte trennen können. Diese Mitteilung an Silke, dass die von ihr geäußerte Präferenz für die Entscheidung nicht bindend war, wäre die Grundvoraussetzung dafür gewesen, dass sie sich bei ihre Beteiligung nicht in einer sie belastenden Rolle gewähnt hätte.
  • Die Regel: Das Gewicht des Kindeswillens ist durch seine Schutzinteressen auszubalancieren. Was oft genug vergessen wird: Bereits bei der Erhebung des Kindeswillens gibt es ein Schutzinteresse des Kindes, das darin besteht, dass wir das Kind davor schützen zu glauben, dass es für die Folgen seiner Willensbekundung verantwortlich ist. Wir wissen, ein Kind kann dies nicht übersehen!!
Lassen Sie mich zusammenfassen:

Sollte es nicht eine Errungenschaft sein, Kinder einzubeziehen? Aber dies darf nicht zu einer Belastung für das Kind führen. Was müssen wir also bedenken, damit sich diese Kinderschutzleistung nicht in einen Gefährdungs-Bumerang für das Kind verkehrt?

  • Der Wille des Kindes muss immer Prozess und Ergebnis der jeweiligen Beziehungserfahrungen, -wünsche und kindlichen Lösungsstrategien sein.
  • Nicht immer ist das, was das Kind sagt, auch sein Wille.
  • Relevant ist das Verstehen und Begreifen der kindlichen Vorstellungen, Meinungen, Haltungen, Wünsche, die den kindlichen Willensbildungsprozess begleiten und damit die Folie kindlicher Willensäußerungen darstellen.
  • Es kann nicht oft genug davor gewarnt werden, mit den Kindern das „Spiel“ einer Umkehr der Verantwortung zu spielen.
  • Verfahrensbeistände müssen über genügend Grundkenntnisse kindlicher Entwicklung verfügen und diese auch anwenden.
  • Es gilt, das Kind davor zu schützen, bereitwillig die Verantwortung für sich und sein Leben zu übernehmen.
  • Kind und Anwalt des Kindes haben nicht auf „Augenhöhe“ miteinander zu sprechen. Kein Kind sagt in einer solchen Situation: Bitte behandeln Sie mich adäquat wie ein Kind, das ich bin!
  • Eine das Kind schützende, gesprächseinleitende Formulierung durch den „Anwalt des Kindes“ kann sein: Ich muss eine Aufgabe erledigen. Um das zu können, möchte ich mit Dir sprechen. Dass ich Dir zuhöre, ist Dein Recht. Wie es dann weitergeht, darüber entscheidest weder Du noch ich, sondern das Gericht.

Sprechen wir so mit einem Kind, dann kann es gelingen, die Bedürfnisse des Kindes nach Selbstwirksamkeit, aktiver Mitbestimmung und Autonomie zu befriedigen, ohne uns - auf seinem Rücken - aus der Verantwortung zu stehlen. Ich weiß aus täglicher Praxis, dass es noch viel zu tun gibt, damit für das Kind die Möglichkeiten verbessert werden, seinen Willen und sein Interesse möglichst ohne allzu schädliche Nebenwirkungen in das Verfahren einzubringen.

Ein Vorschlag

Sie wissen hoffentlich, wen Sie eingeladen haben, diesen Vortrag zum Kindeswillen zu halten. Dann wissen Sie auch, dass ich Sie jetzt mit einer Verbesserungsidee beschäftigen werde. Immernoch stehe ich unter dem Einfluss eines Trainings, das ich kürzlich mit 12 RichterInnen zum Thema „Sprechen mit Kindern“ durchführte.

Dieses Training umfasst:

  • Vermittlung von Wissen über Grundbedürfnisse von Kindern, ihre Rechte und Gefährdungen
  • Vermittlung methodischer und inhaltlicher Kompetenz zur Planung und Durchführung qualifizierter Gespräche mit Kindern
  • Praxis - vor allem in Form Video gestützter Rollenspiele – zu verschiedenen Gewaltformen und Fallkonstellationen
  • Analyse der Videos und Beantwortung der jeweiligen fallbezogenen Fragestellungen
  • Zentrale Botschaft: Die Funktion des Kindergespräches ist nicht, den Auftrag des Gerichtes zu erledigen, sondern, dass sich das Kind als Subjekt mit eigenen Grundrechten erlebt.

Beim Einstieg traf ich auf folgende Einstellung seitens der RichterInnen:

Mit der Protokollierung und Weitergabe des konkreten Kindeswillens komme ich bei Anwälten und OLG durch - auch wenn jeder sich fragen muss: „Das hat das Kind zwar gesagt, aber was will es denn nun wirklich?“.

Beschäftige ich mich mit dem Kind und gebe danach meine Interpretation dessen wieder, was das Kind mir im Gespräch und Spiel zeigte, sagen Anwälte und OLG „Was sollen wir denn damit? Das ist doch Ihre Meinung!“

Nach 8 Stunden harter Arbeit diktierten die RichterInnen mir folgende Erkenntnisse in den Filzstift:

  • Das Kind nicht mit konkreten Fragen in Bedrängnis bringen
  • Recht des Kindes auf Gehör bedeutet nicht Pflicht des Kindes zu sprechen
  • Kind vom Gefühl der Verantwortung entlasten
  • Ehrlich sein - nicht doppelbödig oder hintenherum
  • Nicht rumschleimen
  • Auf Verhalten des Kindes reagieren
  • Auf das Kind achten (Kind im Focus)
  • Es muss kein „Ergebnis“ i.S. von Antworten geben
  • Den eigenen Eindruck vom Kind, das Gefühl zu ihm „übersetzen“ und selbst verantworten
  • Ausdrücklich selbst - im Protokoll - die Verantwortung formulieren
  • Auf die Formulierungen im Anhörungsprotokoll achten
  • „Ich habe gehört...Ich habe verstanden“

Sehen wir Kindeswillen und Kinderschutz als Eines, dann liegt es auf der Hand, dass das Hauptinteresse des Kindes nicht in der Durchsetzung seines Willens liegt, sondern in der Vermeidung weiterer Belastungen durch das Verfahren, das allzu oft nicht für es - das Kind - durchgefochten wird, auch wenn alle nicht müde werden, dies zu behaupten.

Apropos müde: Jetzt ist es spät geworden, aber nicht zu spät, um festzustellen: Es ist gut, dass wir darüber gesprochen haben ...! Und weiter darüber sprechen werden?